Fritz Bauer - Leben, Wirken, Bedeutung


Der Frankfurter Auschwitzprozess (1963-1965) im Spiegel von Tonbandaufnahmen

Charakteristika und Schwierigkeiten des Prozesses am Beispiel des Verfahrens gegen Wilhelm Boger

Wilhelm Boger wird 1906 im damals selbständigen, ab 1931 nach Stuttgart eingemeindeten Zuffenhausen geboren. Die Familienverhältnisse, in denen er aufwächst, gelten als schwierig. Im Stuttgarter Süden besucht er die Schule. Bereits als Junge schließt er sich der völkischen Jugendbewegung an. Mit 23 wird er Mitglied der NSDAP, später auch der SS. Er arbeitet bei wechselnden Arbeitgebern, zwischendurch ist er immer wieder arbeitslos. Kurz nach der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten geht er zur Polizei und steigt dort schnell auf. Nach verschiedenen Stationen im Polizeiapparat kommt er 1942 nach Auschwitz. Als Oberscharführer der Waffen-SS arbeitet er in der politischen Abteilung des größten NS-Vernichtungslagers. Aufgrund willkürlicher Erschießungen und exzessiver Folterpraktiken wird er im Lager bald als „Schrecken von Auschwitz“ bekannt. Bei Kriegsende taucht er zunächst unter, kehrt dann nach Stuttgart zurück und führt dort ein bürgerliches Leben. An seiner neuen Arbeitsstelle wird er als zuverlässiger Kollege geschätzt. 1959 wird er von einem ehemaligen Häftling angezeigt, verhaftet und im Auschwitzprozess angeklagt. Wegen „Mordes in mindestens 114 Fällen und der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an mindestens 1000 Menschen“ wird er am 19. 8. 1965 zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Er stirbt am 22. April 1977.

Das Unaussprechliche aussprechen

 

Viele Überlebende erzählten vor Gericht zum ersten Mal von den Gräueln, die ihnen in Auschwitz angetan worden waren. Die erlebten Traumatisierungen und das mangelnde Interesse an ihrem Schicksal hatten sie häufig verstummen lassen. Die im folgenden Ausschnitt zu hörende Raya Kagan war nach ihrer Befreiung nach Israel ausgewandert und hatte dort bereits im Prozess gegen Adolf Eichmann als Zeugin ausgesagt. Der Eichmann-Prozess hatte in Israel eine ähnliche Auswirkung wie der Auschwitz-Prozess in Deutschland. Beide trugen wesentlich dazu bei, dass das bis dahin aus unterschiedlichen Gründen vorherrschende Schweigen gebrochen wurde und man den Opfern zuzuhören begann. Raya Kagan berichtet in ihrer Vernehmung von der sogenannten „Bogerschaukel“, von Boger gleichermaßen zynisch auch als seine „Sprechmaschine“ bezeichnet. Es handelte sich dabei um ein von ihm entwickeltes Folterinstrument, an dem er seine Opfer kopfüber aufhängen ließ und bis zur Bewusstlosigkeit schlug.

Bedeutung der Zeug:innen - Vorbehalte gegenüber ihrem Zeugnis

 

Den Zeuginnen und Zeugen kam im Auschwitzprozess eine besondere Bedeutung zu. Auf schriftliche Beweismittel oder sogenannte Sachbeweise (z. B. Mordwerkzeuge, Spuren, Leichen) konnte das Gericht kaum zurückgreifen. Zu Geständnissen der Angeklagten kam es nur dann, wenn die Beweislast ohnehin erdrückend war. Umso wichtiger war darum, dass die Zeuginnen und Zeugen so detailliert und präzise wie möglich aussagten. Zugleich galten die Überlebenden in der Öffentlichkeit und vor Gericht als unzuverlässige Quelle. Dem Ideal eines unbeteiligten, emotionslosen und neutralen Zeugen konnten sie zwangsläufig nicht gerecht werden, waren sie von den Gräueltaten der Angeklagten doch direkt betroffen.

 

Diese Ambivalenz wird auch in der Belehrung von Maryla Rosenthal durch den Vorsitzenden Richter Hans Hofmeyer deutlich: Er weist die Zeugin einerseits auf die Bedeutung ihrer Aussage hin, andererseits aber auch auf die Folgen unwahrer Behauptungen.

Unvereinbare Bedürfnisse von Zeug:innen und Justiz

 

Die Auschwitz-Überlebenden, die als Zeugen vor Gericht auftraten, trafen dort auf Juristen, die ihren Berichten vor allem unter dem Gesichtspunkt der Beweisführung zuhörten. Ihnen ging es um eine präzise Darstellung einzelner, ganz konkreter Vorgänge. Sie mussten den Angeklagten eine individuelle Tatbeteiligung und eine eindeutige Mordabsicht nachweisen, um sie verurteilen zu können. Für die Überlebenden waren die Auftritte vor Gericht in vielerlei Hinsicht eine Zumutung: Sie traten vor deutsche Richter - Autoritätspersonen, die ihnen im Rahmen des Gerichtsprozesses das Wort erteilen und auch entziehen konnten -, berichteten von unvorstellbaren Schrecken und mussten dabei immer wieder erleben, dass Richter und Anwälte mit Ungeduld und mangelnder Empathie auf ihre Schilderungen reagierten. Deutlich wird dies auch in der Befragung von Jan Josef Farber durch einen Anwalt der Nebenkläger im Auschwitzprozess. 

Die Strategie der Angeklagten: „Das weiß ich nicht mehr.“ – „Das habe ich nicht getan.“ – „Das wurde mir befohlen.“

 

Die Angeklagten im Auschwitzprozess beriefen sich häufig auf Erinnerungslücken oder stritten entschieden ab, an den ihnen zur Last gelegten Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Wenn ihre Tatbeteiligung aufgrund erdrückender Beweise nicht mehr zu leugnen war, beriefen sie sich auf einen „Befehlsnotstand“: Sie hätten nur getötet, weil es ihnen befohlen worden sei, Mordmotive hätten ihnen ferngelegen. Das Auftreten und die Aussagen der Angeklagten mussten den anwesenden Überlebenden und ihren Familienangehörigen wie Hohn vorkommen. Damit nicht genug: Nach seiner Verurteilung ging Wilhelm Boger so weit, sich zum Opfer eines „Terrorurteils“ zu erklären, „das durch meineidige Zeugen zustande kam.“

 

Bei seiner Befragung durch den Richter Hans Hofmeyer im Auschwitzprozess bedient sich Boger in wenigen Minuten der ganzen Bandbreite der Verteidigungsstrategie: Erinnerungslücke, Befehlsnotstand, Leugnen.


Diese Seite ist im Rahmen eines Projektes des Leistungsfaches Geschichte (Kursstufe 2) am Gymnasium Plochingen entstanden.

Betreuender Lehrer: Friedhelm Krämer

Unterstützung und Beratung bei der Recherche: Nadine Docktor und Martin Liepach vom Fritz Bauer Institut Frankfurt am Main. Vielen Dank!

 

Hauptsächlich herangezogene Literatur und Quellen:

 

Stengel, Katharina: Die Überlebenden vor Gericht. Auschwitz-Häftlinge als Zeugen in NS-Prozessen (1950-1976), Göttingen 2023.

 

Kostenlos als pdf abrufbar: https://www.dubnow.de/publikation/die-ueberlebenden-vor-gericht

 

Renz, Werner: Der Frankfurter Auschwitzprozess (1963-1965)

https://www.auschwitz-prozess.de/materialien/T_02_Der_Frankfurter_Auschwitz-Prozess/

 

https://www.geissstrasse.de/media/denkblatt_bauer_boger.pdf

 

Tonbandaufnahmen vom Auschwitzprozesses: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden

HHSTAW, 461, 41029-41030 (Raya Kagan)

HHSTAW, 461, 41083 (Wilhelm Boger)

HHSTAW, 461, 41005-41006 (Maryla Rosenthal)

HHSTAW, 461, 41048 (Jan Farber)

 

 


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